„Wir werden sehen, wie die Front einfach zusammenbrechen wird!“

Interview mit Serhii Kuzan (Leiter des Ukrainian Security and Cooperation Centre in Kyjiw, Berater des Verteidigungsministeriums der Ukraine und militärpolitischer Analyst) über die militärische Lage in der Ukraine und die Aussichten für die Zukunft
Nachricht20.07.2023Interview: Dr. Constantin Groth | Übersetzung aus dem Ukrainischen: Kateryna Matey
Interview mit Serhii Kuzan
Serhii Kuzan (links) im Gespräch mit Dr. Constantin GrothThomas-Dehler-Stiftung

Am 20. Juli 2023 war Serhii Kuzan (Leiter des Ukrainian Security and Cooperation Centre in Kyjiw (USCC), Berater des Verteidigungsministeriums der Ukraine und militärpolitischer Analyst) mit seinem Team zu Gast bei der Thomas-Dehler-Stiftung. Er diskutierte mit Nils Gründer MdB (Mitglied im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages) und gab ein Interview zur militärischen Lage in der Ukraine und den Aussichten für die Zukunft. Das Interview ist im Folgenden in voller Länge abgedruckt.

Vor dem Interview bedankt sich Serhii Kuzan für die Einladung und für die Arbeit der Stiftung: Die Werte, für die die Stiftung stehe, seien genau das, wofür die Ukraine kämpfe.

Am 17. Juli hat Russland das Getreideabkommen nach rund einjähriger Laufzeit nicht mehr verlängert. Zeitgleich greift Russland Getreideterminals in ukrainischen Häfen, beispielsweise in Odesa, gezielt an, um Getreide zu vernichten. Insbesondere ärmere Länder in Afrika sind auf Getreide aus der Ukraine angewiesen. Warum macht Putin das? Was ist das Kalkül dahinter?

In den Häfen von Odesa wurden nach ukrainischen Angaben 60.000 Tonnen Getreide gelagert, die durch den russischen Beschuss vernichtet wurden. Zum einen erhöht Russland damit künstlich die Preise, zum anderen befördert es Getreidemangel in der gesamten Welt, vor allem in den Ländern Afrikas, in die Russland nun seinen Weizen und das zuvor aus dem Süden der Ukraine gestohlene Getreide verkaufen kann. Der Terror gegen die Lebensmittelversorgung ist vor allem für die Länder Afrikas eine Bedrohung, da Lebensmittelknappheit zu Aufständen in der Bevölkerung führen kann. Das ist eine alte Taktik der Russen, bei der sie versuchen, Entwicklungen wie im Jahr 2015 zu provozieren, als ihr Terror in Syrien eine Flüchtlingswelle ausgelöst hat, was wiederum zu einer großen Belastung für Europa geführt hat. Wir erinnern uns auch an den Arabischen Frühling, als die Lebensmittelpreise eine der Ursachen für die Aufstände waren. Jetzt möchte Russland diese Ereignisse wiederholen, nur in größerem Maßstab.

Das heißt, letzten Endes geht es Russland nicht darum, die Länder des Globalen Südens für sich zu gewinnen, sondern ihnen ihre Abhängigkeit aufzuzeigen und ihnen Angst zu machen?

Absolut. Und darüber hinaus auch in Europa mit einer drohenden größeren Flüchtlingsbewegung Angst zu schüren.

Nicht nur in der deutschen Presse ist viel von der Gegenoffensive der Ukraine die Rede. Diese ist lange erwartet worden und viele scheinen auch schnellere Erfolge erwartet zu haben, gerade mit Blick auf die vergangenen militärischen Erfolge um Charkiw und Cherson im Herbst 2022. Wie bewerten Sie die aktuelle militärische Lage? Und was unterscheidet die Situation von der im Herbst 2022?

Aufgrund der uns zur Verfügung stehenden Ressourcen verläuft die momentane Militärkampagne nach dem einzig möglichen Szenario. Der Befehlshaber der russischen Besatzungsoffensive, Gerassimows Vorgänger Surowikin, hat die richtige Entscheidung getroffen, als er die Truppen im Süden in die Verteidigungsstellung überführt hat. Der Ausbau der Verteidigungslinien hat über neun Monate gedauert. Da wir die Waffenlieferungen zum Teil sehr spät erhalten haben, hatten die Russen genug Zeit, ihre Verteidigung auszubauen. Die Verteidigungslinien sehen zuerst Minenfelder vor, die um einiges größer sind, als das von den NATO-Staaten und auch von Russland vorgesehen ist. Hinter den Minenfeldern wurden hunderte Schützengräben angelegt und befestigt. Und dahinter kommt ihre Artillerie, deren Aufgabe darin liegt, alles zu zerstören, was sich auf die Minenfelder zubewegt. Die Verteidigungslinien werden außerdem durch ihre Luftwaffe und ihre Kampfhubschrauber aus der Luft gesichert.

Kann die Ukraine ihr gesamtes Staatsgebiet zurückerobern? Und wie wichtig sind dazu weitere Waffenlieferungen des Westens? Wie wichtig sind dazu – schauen wir auf das Thema Luftüberlegenheit – die Lieferungen von Kampfjets, Stichwort F16?

Momentan vermindern wir das Kampfpotenzial der Russen. Ja, es geht nicht sehr schnell voran, da uns die Russen momentan in Mannstärke, ungefähr 400.000, mit ihrer Luftwaffe und ihrer Artillerie zahlenmäßig überlegen sind. Aber wir können ihr Kampfpotential reduzieren, da wir über die hochwertigere westliche Technik verfügen. Ab einem bestimmten Punkt werden wir dann einen erfolgreichen Durchbruch bis zum Asowschen Meer und zur Krym sehen. Dieser Prozess braucht jedoch Zeit. Und zu seinem Gelingen benötigen wir nach wie vor die westliche Technik, vor allem die deutsche, die sich an der Front als höchst effektiv erweist. Wir können unsere Munition sehr sparsam und sehr genau, mit minimalem Schaden für zivile Objekte, einsetzen. Um aber Ziele im Hinterland angreifen zu können, benötigen wir Raketen mit großer Reichweite wie die Taurus. Was die Flugzeuge angeht: Unsere Flugzeuge sind denen der Russen in Zahl und Qualität unterlegen. Deshalb vollbringt die Ukraine heute das Unmögliche, etwas, das in keinem der westlichen Lehrbücher über Kriegsführung gelehrt wird: Sie greift ohne Luftüberlegenheit eine größere und überlegene Armee an und zerstört erfolgreich ihre Einheiten. Mit Luftüberlegenheit könnten wir unsere Geschwindigkeit verdreifachen. Und bezüglich der Frage, ob wir alle unsere Gebiete befreien können, einschließlich der Krym: Ja, wir können das definitiv. Der beste Beweis dafür ist der Befehlshaber der 58. russischen Armee, der Gerassimow berichtet hat, dass seine Kräfte im Süden erschöpft sind, dass sie eine Rotation benötigen, da sie den ukrainischen Truppen nicht mehr lange standhalten können. Dafür wurde er von Gerassimow entlassen. Wir werden sehen, wie die Front einfach zusammenbrechen wird. Aber das wird nicht morgen geschehen, dafür braucht es Zeit.

Interview mit Serhii Kuzan
v. l. n. r. Dr. Constantin Groth, Serhii Kuzan, Nils Gründer MdB, Kateryna Matey, Solomiia KhomaThomas-Dehler-Stiftung

Wie bewerten Sie die Rolle der deutschen Waffenlieferungen?

Alle Militärangehörigen, mit denen wir in Kontakt stehen, loben die deutsche Militärtechnologie und alle sind der Meinung, dass wir mehr davon benötigen. Das betrifft vor allem die gepanzerten Fahrzeuge, vor allem auch die Artillerie, die Panzerhaubitze 2000. Natürlich wäre der Aufbau von Produktions- und auch von Wartungsanlagen auf ukrainischem Staatsgebiet am sinnvollsten. Momentan bringen wir die Technik zur Reparatur ins Ausland und danach wieder zurück ins Land. Der Zeitaufwand dafür hat unmittelbare Auswirkungen auf das Geschehen an der Front. Wir müssen ihn auf ein Minimum reduzieren.

Wenn wir über Produktionskapazitäten in der Ukraine sprechen – Stichwort wären hier die Pläne von Rheinmetall, Panzer, Munition und Flugabwehr in der Ukraine zu produzieren: Diese Anlagen existieren noch nicht. Wie lange wird das dauern? Ist das etwas, was der Ukraine schon im nächsten Jahr nutzen wird oder ist das etwas, was die Ukraine lediglich langfristig stärken kann?

Der Punkt ist, dass wir mit der Geschwindigkeit, mit der Waffen geliefert werden, diesen Krieg nicht schnell gewinnen werden können. Der Aufbau solcher Produktionsanlagen sollte daher so schnell wie möglich beginnen. Wir müssen aber auch sehen, dass die Russen sehr genau beobachten, wie viel aus dem Westen geliefert wird und was wir an Technik produzieren. Sie denken in diesem Krieg voraus. Sie rechnen damit, dass die westliche Koalition diesen Krieg nicht so lange wie Russland durchhalten wird. Es geht somit auch um die Symbolwirkung.

Sie haben es gerade angesprochen: Der große Joker, auf den Putin zu setzen scheint, ist eine Ermüdung des Westens, was die Ukraine anbelangt. Im Englischen existiert bereits der Begriff „Ukraine fatigue“. Was kann Ihrer Meinung nach die Ukraine, was können die Unterstützer der Ukraine im Westen tun, um dem entgegenzuwirken?

Wir müssen strategisch längerfristig denken. Wie zum einen an den Aufbau von Produktionsanlagen, sowie allgemein an die Zusammenarbeit über Jahre hinaus. Nur dann werden die Russen verstehen, dass sie keine Möglichkeit haben, diesen Krieg zu gewinnen, da im Westen die Bereitschaft für eine anhaltende Kooperations- und Verteidigungsstrategie vorhanden ist.

Kommen wir auf ein anderes Thema zu sprechen, mit dem sich das USCC ja auch intensiv beschäftigt, nämlich auf das Thema russische Desinformation. Da gibt es auf der einen Seite die ganz offensichtlichen Propagandalügen, aber auf der anderen Seite die Narrative, die auch bei denen verfangen, die dem Putinregime ablehnend gegenüberstehen. Da ist einmal das Narrativ von der russischen Stärke, Stichwort „Russland kann nicht besiegt werden“, und das sind die Atomdrohungen Russlands, die vor allem in Deutschland zu Ängsten führen. Wie entkräften Sie diese Narrative? Und können Sie den Deutschen die Angst vor einem Atomkrieg nehmen?

Uns muss einfach klar sein, dass man den Russen nichts glauben kann. Sie nutzen ihre öffentlichen Aussagen als Mittel der Desinformation. Das haben wir gesehen, als sie uns versichert haben, keinen Krieg anfangen zu wollen. Wir haben das gesehen, als sie uns versichert haben, die Wirtschaft nicht als Waffe zu missbrauchen. Und wir haben das mit Blick auf ihre militärische Stärke gesehen, als ihre Elitetruppen gleich zu Beginn noch ganz ohne westliche Waffen aufgerieben wurden. Und die ganze Zeit über haben die Russen mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Unsere Aufklärung hat jedoch zu keinem Zeitpunkt eine Änderung in den Protokollen festgestellt, die auf den Plan deuten könnte, solche Waffensysteme einzusetzen. Hätte Russland die Absicht gehabt, dann wäre der Einsatz im Mai, Juni letzten Jahres weit zielführender gewesen. Heute haben sie diese Möglichkeit nicht mehr. Als ihre nukleare Erpressung mit taktischen Atomwaffen ins Leere lief, haben sie damit begonnen, ihre Erpressung mit dem Atomkraftwerk von Saporischschja fortzuführen. Das machen sie nicht aus einer Position der Stärke, sondern der Schwäche, denn sie verstehen, dass die Welt keine Angst mehr vor ihren Atomraketen hat.

Am 11. und 12. Juli fand in Vilnius der NATO-Gipfel statt. Wir haben hier sehr positive Ergebnisse, vor allem die Einigung mit der Türkei mit Blick auf die NATO-Mitgliedschaft Schwedens – für die euroatlantische Sicherheit ein enorm wichtiger Schritt. Es ist das Gegenteil von dem, was Putin erreichen wollte. Auf der anderen Seite wurde kein klarer Zeitplan für die Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO festgelegt. Wie bewerten Sie die Ergebnisse des NATO-Gipfels aus ukrainischer Sicht?

Wir haben nicht vor, mit der Hilfe der NATO diesen Krieg zu gewinnen, denn es ist natürlich unser Krieg. Das ist das eine. Das Wichtigste ist, dass die NATO als militärpolitischer Block weiterhin die Unterstützung für die Ukraine aufrechterhält, und wir sind davon überzeugt, dass wir nach unserem Sieg ein Teil dieses Blocks werden, denn die NATO braucht die Ukraine genauso wie die Ukraine die NATO braucht: Es ist offensichtlich, dass das militärische Potenzial der Ukraine größer ist, als das der meisten NATO-Mitgliedstaaten.

Die Ukraine benötigt Sicherheitsgarantien für die Zeit nach dem Sieg. Wie können diese Garantien aussehen und gibt es hier überhaupt eine Alternative zu einer NATO-Mitgliedschaft?

Nein. Sicherheitsgarantien in anderer Form können lediglich eine Zwischenlösung sein, bis wir den Krieg gewonnen haben. Das Hauptziel bleibt unverändert, was auch von unserem Präsidenten und der gesamten Regierung betont wurde, dass die Ukraine ein vollwertiges NATO-Mitglied werden soll. Hierzu gibt es keine Alternativen. Wir verstehen, dass das erst nach unserem Sieg geschehen kann, aber auch in der gesamten Gesellschaft herrscht Konsens über eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine.

Sprechen wir über die EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Wie gefährlich ist diese für Putin? Wie könnte Russland reagieren, wenn die Ukraine diesen Weg geht?

Wir müssen mit Blick auf einen NATO- oder EU-Beitritt der Ukraine nicht auf Russland schauen. Unsere Aufgabe liegt vielmehr darin, Russland soweit zu schwächen, dass es darauf keinen Einfluss mehr nehmen kann. Russland ist bereits heute nicht mehr in der Position, dem Westen oder der Ukraine seine Forderungen zu diktieren und unsere Aufgabe ist es, es so weit zu schwächen, dass dies für jeden Politiker im Westen klar wird.

Das heißt: Letzten Endes ist der Sieg der Ukraine die Grundlage dafür, dass das Land den Weg ins westliche Wirtschafts- und Wertebündnis gehen kann?

Ganz genau.

Zum Abschluss: Was sind Ihre Prognosen: Wie lange wird dieser Krieg noch dauern? Und was ist nötig für einen möglichst schnellen Sieg der Ukraine?

Der Krieg wird auf jeden Fall bis Ende des Jahres dauern. Was einen möglichst schnellen Sieg angeht, hängt alles davon ab, wie schnell wir die benötigte Technik erhalten werden. Das ist vor allem eine große Anzahl Raketen mit großer Reichweite und selbstverständlich auch eine massive Aufstockung unserer Luftwaffe. In unserem Generalstab gibt es ausgearbeitete Pläne, die sich nach der Dynamik der Waffenlieferungen richten. Selbstverständlich kann sich der Krieg hinziehen, wenn wir zu wenig Waffen haben. Dann werden auch die Opferzahlen wieder steigen. Wir sehen, dass Russland seine Produktion von Raketen mit großer Reichweite verdoppeln konnte. Die Russen können jährlich 200 Panzer bauen. Wenn wir wissen, dass die Ukraine 2000 Raketen erhalten wird, wenn wir wissen, dass jährlich 400 Panzer für die Ukraine produziert werden können und wenn wir die Russen auch auf anderen technischen Feldern übertreffen können, dann wird die Fortführung dieses Krieges für Russland perspektivlos. Und es ist wichtig, dass die Ukraine nicht die Initiative verliert und nicht aufhört, Druck auszuüben. Wenn wir damit aufhören, dann werden die Russen wieder Zeit haben, sich zu regenerieren, neu zu mobilisieren und den Krieg von neuem anzufachen.

Herr Kuzan, wir bedanken uns für das Gespräch!

 

Am Abend des 20. Juli diskutierte Serhii Kuzan mit Ulrich Lechte MdB über das Thema "Wie wirksam sind die Sanktionen gegen Russland?":

Sanktionen und gute Geschäfte