Was Wahlprogramme wirklich aussagen

Wahlprogramme zeigen die Forderungen der Parteien, doch sie erlauben auch einen Blick auf ihr grundlegendes Menschenbild
Nachricht30.08.2017Markas Adeikis
Dr. Thorsten Lange, Poltikwissenschaftler
Dr. Thorsten Lange, Poltikwissenschaftler, beim Vergleich der WahlprogrammeFriedrich-Naumann-Stiftung

Bürger setzen sich kritisch mit den Wahlprogrammen von Parteien auseinander

Zu Wahlprogrammen behaupten viele, sie seien zu umfangreich, zu langweilig, und am Ende hielten Parteien kaum das, was sie versprächen. Denn die Politiker würden nach den Wahlen bei den Koalitionsverhandlungen von vielen Forderungen abweichen. Aber gerade weil die Parteien dazu neigen, von manchen Wahlversprechen schnell abzurücken, sollten die Bürger Wahlprogramme genau kennen, damit sie die Charakteristiken der Parteien besser verstehen. So entsteht ein realistischeres Bild der Parteien.

Motiviert von diesem Gedanken, hat die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit zur Seminarreihe „Deutschland vor der Bundestagswahl 2017: Die Wahlprogramme der Parteien im Vergleich“ eingeladen. Zahlreiche Teilnehmer haben sich an verschiedenen Orten in Bayern versammelt, um die unterschiedlichen Positionen der Parteien anhand von Ausschnitten aus ihren Wahlprogrammen zu verstehen und durch die Gegenüberstellung ein klareres Bild zu bekommen. Als Experte stand ihnen Politikwissenschaftler Dr. Thorsten Lange zur Seite.

In kleine Arbeitsgruppen aufgeteilt, haben sich die Bürger mit den Auszügen aus den Wahlprogrammen unterschiedlicher Parteien befasst und die Ergebnisse in der darauffolgenden Diskussion präsentiert.

Neue Tendenzen in Wahlprogrammen

Das Seminar hat ein Schlaglicht auf Feinheiten der Wahlprogramme geworfen: Fast alle Wahlprogramme beinhalteten Schlüsselwörter, die die Bereitschaft der Parteien andeuten, notfalls auch neue Koalitionen einzugehen. Während die Unionsparteien in ihrem Programm immer öfter die Vorteile der Digitalisierung und des Wagniskapitals erwähnen, freundet sich die SPD laut dem Seminarleiter immer mehr mit dem Begriff „Investition“ an. Die umweltbewussten Grünen konzentrieren sich in ihrem Programm stärker auf die Elektromobilität, um das innovationsfeindliche Image loszuwerden. Bei den Freien Demokraten sieht Dr. Lange das Menschenbild des „Lebensunternehmers“ – eines Menschen, der sein Glück in die eigene Hand nehmen will. Somit wird der Wille der Parteien, neue Wählerschichten für sich zu erschließen, offensichtlich.

Gerechtigkeit auf liberal?

Das Wort „Gerechtigkeit“ wird in fast jedem Wahlprogramm gefunden. Nur interpretiert wird dieser Begriff immer anders. Während die SPD unter Gerechtigkeit in erster Linie eine hohe Gleichheit und eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung für jeden versteht und die Grünen eine gesunde Work-Life-Balance als gerecht bezeichnen, zielt die FDP auf die Chancengerechtigkeit, die gleiche Ausgangsbedingungen schafft, aber unterschiedliche Ergebnisse akzeptiert. Der Kontrast zeigt, wie unterschiedlich die Parteien den Begriff der Gerechtigkeit deuten – entweder als fundamentale Gleichheit oder als Handlungsfreiheit von einer gleichen Basis aus.

Auf die Formulierung kommt es an

Am Ende des Seminars fasste Dr. Thorsten Lange die Substanz der Analyse zusammen: Wichtig ist es, dass Bürger das Wording von jeder Partei richtig erkennen und deuten können. Denn das Ziel der Parteien ist bei weitem nicht nur die Darstellung von Positionen in ihren Wahlprogrammen, sondern auch die Signalisierung der möglichen Kooperationsbereitschaft. Ob diese Signale auch nach den Wahlen Substanz haben, wird sich zeigen.