Alles auf Anfang? Der „Brexit“ und seine Folgen

Im Gespräch mit Ingmar Niemann von der Gesellschaft für Außenpolitik
Nachricht20.06.2016Michael Lindner
London

Die Zukunft des Vereinigten Königreichs in der EU ist ungewiss, kurz vor dem anstehenden Referendum über einen Ausstieg sehen Umfragen die Befürworter vorne. Welche Folgen hätte der „Brexit“ für UK, Deutschland und die EU? Darüber haben wir mit Ingmar Niemann, Hochschuldozent für Politikwissenschaften und Mitglied des Vorstandes der Gesellschaft für Außenpolitik e. V., gesprochen.

Lieber Herr Niemann, am 23. Juni werden die Briten über den Verbleib in der EU abstimmen. Wie wird die Abstimmung ausgehen? Und was sind die entscheidenden Punkte, die bei der Abstimmung eine Rolle spielen werden?

Aus meiner Sicht ist das Abstimmungsergebnis völlig offen. Nur eines ist sicher, die Menschen werden dem Herzen nach abstimmen, weniger nach dem Verstand. Das erklärt auch, warum so viele Menschen in Großbritannien wohl für einen Brexit stimmen werden. Der britische Patriotismus ist eben ausgeprägt und eine signifikante Größe.

Niemann

Vieles ist denkbar, eben bis hin zur Auflösung Großbritanniens als Ganzes.

Ingmar Niemann

Wie wird sich das Vereinigte Königreich verändern, wenn die Bevölkerung tatsächlich für einen Ausstieg aus der Europäischen Union stimmen wird?

Vieles ist denkbar. Die Schotten werden wahrscheinlich wieder verstärkt für eine Unabhängigkeit von Großbritannien eintreten, allein um wieder in die EU aufgenommen werden zu können. Nordirland könnte sich Irland annähern, um ggf. über eine Vereinigung mit Irland die Mitgliedschaft in der EU wieder zu erlangen. Vieles ist denkbar, eben bis hin zur Auflösung Großbritanniens als Ganzes.

Was erwarten Sie für Auswirkungen für Deutschland und die Europäische Union im Ganzen?

Deutschland würde in der Europäischen Union deutlich an Einfluss verlieren. Großbritannien war in den wirtschafts- und finanzpolitischen Fragestellungen innerhalb der Union ein enger Partner der deutschen Regierung mit ähnlich marktwirtschaftlich orientierten Positionen. Ohne England wird die Union in ihrer Wirtschafts- und Währungspolitik deutlich südländischer, da wir dann – mal wieder – relativ alleine innerhalb der Gemeinschaft stehen.

Hat ein Ausstieg UKs das Potential einen Dominoeffekt auszulösen? Also das weitere EU-Staaten Referenden über die Zugehörigkeit andenken?

Ich denke, dass hier keine Dominoeffekte zu erwarten sind. Die Probleme der anderen Staaten der Gemeinschaft sind so groß, dass sie ohne die Unterstützung der Europäischen Union kaum zu lösen sind. Und wenn es Abwanderungstendenzen gibt, dann eher aus der Eurozone denn aus der EU als Ganzes. Also hier würde ich Entwarnung geben.

Niemann

Die Überregulierung durch Brüssel ist Menschen in vielen Ländern der EU ein Dorn im Auge.

Ingmar Niemann

Welche Schwächen sehen Sie an der aktuellen Konstitution der EU, die eine Separierungsbewegung wie den zur Abstimmung stehenden Brexit begünstigen?

Die Überregulierung durch Brüssel ist Menschen in vielen Ländern der EU ein Dorn im Auge. Zu viel Bürokratie, falsche wirtschaftliche Anreize und Verschwendung von finanziellen Mitteln zerstören Vertrauen. Doch was am meisten schmerzt ist die fehlende Bereitschaft, sich auch in Krisenzeiten an die Verträge und Vereinbarungen der Gemeinschaft zu halten. „Pacta sunt servanda“ (lat.; dt. Verträge sind einzuhalten) heißt es im römischen Recht und das sollte auch heute noch so gelten.

Es gibt Stimmen, die bei einem Brexit die Rückkehr zu einem losen Staatenbund, der sich nur als Wirtschaftsunion versteht, prophezeien. Ist das ein realistisches Szenario?

Das Gegenteil dürfte wohl realistischer sein: Fällt Großbritannien aus der Gemeinschaft raus, dann ist ein (ge)wichtiges Land, das mehr den lockeren Staatenbund befürwortet, nicht mehr dabei. Es wird also leichter, die EU politisch zu einen.