Nach dem Jamaika-Aus: Was uns die Verfassung gewährt

Regierungsbildung in Zeiten eines sieben-Parteien-Parlaments
Nachricht02.12.2017Markas Adeikis
Reichstag
Der deutsche BundestagiStock / MarioGuti

Das Scheitern der Jamaika-Sondierungsgespräche hat bei manchen Bürgern und Politikbeobachtern für eine böse Überraschung gesorgt. Die realistische Möglichkeit einer Neuwahl und die gescheiterte Bildung einer mehrheitsfähigen Regierung rufen bei manchen Beobachtern Erinnerungen an Weimarer Verhältnisse hervor. Vor allem werden die fortschreitende Zersplitterung der deutschen Parteienlandschaft, die Kurzlebigkeit der künftigen Regierungen sowie das Erstarken antidemokratischer Parteien befürchtet.

Der Druck auf politische Entscheidungsträger ist umso größer, weil die Bildung einer Jamaika-Koalition nach der Bundestagswahl in Medien oft als alternativlos dargestellt wurde. Außerdem gilt der Abbruch von Sondierungsgesprächen als ein unangenehmes Novum in der Bundesrepublik.

Um sich ein nüchternes Bild von der entstandenen Situation zu verschaffen, lohnt sich ein Blick auf die Handlungsmöglichkeiten, die unser Grundgesetz sowie die Zusammensetzung des Parlaments bieten.

Beschränkte Alternativen

Drei Optionen stehen in der aktuellen Situation im Raum:

  1. Eine parlamentarische Mehrheit wird nach langwierigen Gesprächen und Verhandlungen gefunden; sie gewährt der unionsgeführten Regierung die nötige Stabilität für die Legislaturperiode.
  2. Eine Minderheitsregierung kann vom Bundespräsidenten ernannt werden, sie regiert mit wechselnden Mehrheiten. Ob eine solche Regierung aber in der ganzen Legislaturperiode fortbestehen kann, bleibt ungewiss.
  3. Mangels der Kompromissbereitschaft von Parteien wird die Festlegung von Neuwahlen unerlässlich.

All diese Varianten sind im Grundgesetz vorgesehen, die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben sie also in ihrer Arbeit berücksichtigt. Eine Verfassungskrise ist somit kein Thema.

Weiter auf der Suche nach einer Kanzlermehrheit

Trotz der abgebrochenen Jamaika-Gespräche bleibt eine realistische Chance, eine mehrheitsfähige Regierung zu bilden. Zwei mögliche Varianten zeichnen sich derzeit ab: Die Jamaika-Koalition und die Große Koalition.

Es klingt paradox, aber die gescheiterte Sondierung zur Jamaika-Koalition muss nicht per se eine spätere Bildung des schwarz-gelb-grünen Bündnisses ausschließen. Für die Wiederaufnahme der Koalitionsgespräche müssten die verhärteten Fronten taktisch klug überwunden werden. Ein neuer Verhandlungsrahmen sollte geschaffen werden, um den Erfolg der Sondierung zu erleichtern. Vor allem muss aber das Vertrauen wiederaufgebaut werden, das durch gegenseitige Verunglimpfungen und Anschuldigungen ruiniert worden ist. Dass eine Möglichkeit der Jamaika-Wiederauflage bestünde, zeigen auch kompromissbereite Aussagen einiger FDP-Spitzenpolitiker. Es ist aber ernsthaft zu bezweifeln, ob es in der ganz nahen Zukunft zu einem Jamaika-Bündnis auf Bundesebene kommt: FDP-Vorsitzender Christian Lindner hat so eine Option explizit ausgeschlossen – sowohl für die Medien als auch in den Gesprächen mit dem Bundespräsidenten.

Viel realistischer erscheint zurzeit die Bildung der Großen Koalition. Trotz der vorherigen Beteuerungen der SPD, für diese Legislaturperiode in der Opposition zu bleiben, sind die Genossen von ihrem Nachwahl-Versprechen abgerückt und haben die Bereitschaft zu Koalitionsgesprächen angedeutet. Da für die Bundeskanzlerin eine Große Koalition momentan attraktiv erscheint und die SPD die Neuwahlen meidet, ist die Entstehung der dritten Groko in diesem Jahrtausend ziemlich wahrscheinlich.

Regieren mit wechselnden Mehrheiten

Der gesetzliche Weg zu einer Minderheitsregierung ist auf den ersten Blick gar nicht so schwierig: Im Normalfall sollte der Bundespräsident nach Art. 63 Abs. 1 GG dem Bundestag einen Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers vorschlagen. Wenn der Kandidat beim ersten Wahlgang nicht die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinen kann, findet der zweite Wahlgang statt. Erst im dritten Wahlgang genügt dem Kandidaten auch eine einfache Mehrheit (nach Art. 63 Abs. 4 GG); danach kann der Bundespräsident entscheiden, ob er den gewählten Kanzler ernennt oder den Bundestag auflöst. Entscheidet er sich für das Erste, so wird die Minderheitsregierung gebildet.

Rein formell gibt es also keine Hürden, eine Minderheitsregierung in der Bundesrepublik zu etablieren. Auch in der Verfassungswirklichkeit könnte man vielleicht mit der Stabilität solch einer Regierung rechnen, wenn der Bundeskanzler samt Ministern für seine Gesetzesinitiativen geschickt nach wechselnden Mehrheiten sucht. Die Erfahrungen auf Länderebene zeigen, dass es in der politischen Kultur Deutschlands möglich ist. Auch im Bundesrat müssen parteienübergreifende Kompromisse gefunden werden. Natürlich besteht immer noch die Möglichkeit, die Minderheitsregierung nach Art. 67 GG zu stürzen, indem eine parlamentarische Mehrheit einen anderen Kanzler wählt.

Andererseits gibt es auch gute Gründe, warum die Minderheitsregierungen in Deutschland als unpraktikabel gelten. Wider Erwarten würde das Fehlen der formellen parlamentarischen Mehrheit dem Bundestag als einer demokratischen Instanz schaden: Gerade weil in der Bundesrepublik die Tradition der Gewaltenverschränkung seit Jahrzehnten dominiert, würde eine „schwache“ Minderheitsregierung auch das Parlament schwächen und es der Handlungsfähigkeit berauben.

Außerdem hört man oft das Argument, die Tradition der kleinen Länder, in denen Minderheitsregierungen gängig sind, ließe sich nicht „einfach so“ auf so ein wichtiges EU-Land wie Deutschland übertragen. Die internationalen Partner erwarten von Deutschland eine stabile Regierung. Das würde auch die Frage beantworten, warum Bundeskanzlerin Merkel einer Minderheitsregierung in Deutschland eher skeptisch gegenübersteht.

Dass die Minderheitsregierung ein Projekt mit vielen Unwägbarkeiten ist, beweisen auch zahlreiche Fälle aus Staaten, in denen diese Regierungsform oft praktiziert wird. In Schweden wurden beispielsweise die Haushaltsentwürfe im Parlament mit wechselnden Mehrheiten nicht gleich im ersten Anlauf angenommen. Die 2010-2012 in den Niederlanden praktizierte Minderheitsregierung, die von Rechtspopulisten toleriert wurde, enthielt ebenfalls viel Konfliktpotenzial und ist schließlich vorzeitig an den Haushaltsfragen gescheitert. Deswegen ist nicht auszuschließen, dass ein mögliches Scheitern einer Minderheitsregierung in Deutschland zu Neuwahlen führen würde.

Neuwahlen: die Karten werden neu gemischt

Der deutsche Bundespräsident, der im Politikbetrieb sonst vor allem repräsentative Aufgaben erfüllt, spielt eine entscheidende Rolle im Fall einer Regierungskrise. Laut dem Grundgesetz kann sich der Bundestag nicht auf eigene Initiative auflösen; dafür braucht man nach Art. 68 GG eine gescheiterte Vertrauensfrage. Danach kann der Bundespräsident das Parlament auflösen. Da die Bundeskanzlerin jetzt aber lediglich als „geschäftsführend“ gilt und nach Art. 69 Abs. 3 GG „auf Ersuchen des Bundespräsidenten“ zur Amtsausübung weiter verpflichtet ist, kann sie selber nicht sofort das Misstrauensvotum einleiten. Kurz zusammengefasst, können die Neuwahlen ohne Zustimmung des Bundespräsidenten gar nicht stattfinden.

Dazu kommt auch die Tatsache, dass der aktuelle Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kein Verfechter der Idee der Neuwahl ist und als Akteur alles unternimmt, um sie zu vermeiden. Deswegen führt er intensive Gespräche mit allen im Bundestag sitzenden Parteien, um die Regierungsbildung zu erleichtern.

Die Neuwahl birgt außerdem ein großes Risiko für alle bereits im Bundestag sitzenden Parteien. Ihnen könnte politische Verantwortungslosigkeit angelastet werden, dass sie durch ihre Kompromisslosigkeit eine Regierungskrise geschaffen hätten. Welche Partei bei der Neuwahl dadurch am meisten getroffen wird, kann niemand vorhersagen. Zudem kann auch ein anderes Szenario eintreten, dass die Neuwahl keine entscheidenden Veränderungen im Bundestag bringt und somit auch keine praktische Lösung bietet. Ein erneuter Urnengang nach so kurz nach der Wahl könnte die Wahlmüdigkeit und den Frust der Bürger steigern.

Es gibt nur wenige Handlungsmöglichkeiten angesichts der aktuellen Situation. Sie wird noch mehr durch die Neigung einiger Akteure geschmälert, bestimmte Optionen komplett auszuschließen. So hat sich die CDU-Spitze gegen die Bildung einer Minderheitsregierung ausgesprochen, während die Neuwahl als die unattraktivste Option sowohl von Bundespräsident Steinmeier als auch von Bundeskanzlerin Merkel verworfen wird. Da sich die FDP entschieden weigert, Jamaika-Sondierungsgespräche erneut aufzunehmen, scheint die Bildung der Großen Koalition am realistischsten zu sein. Es sei denn, der Berliner Politikbetrieb beschert uns nach der gescheiterten Jamaika-Verhandlungsphase eine weitere Überraschung.